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2014.10.14: Kinder von Armutseinwanderer: Kämpfen, damit sie nicht entgleiten  

Ein Artikel von Rainer Burger, veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeine am 14.10.2014:

Dortmund tut viel, um die Kinder von Armutseinwanderern aus Südosteuropa zu integrieren. Aber manche verschwinden einfach irgendwann oder landen auf der Straße.

Info-Mobil der Stadt Ortmund. Foto: Axel Völkel, nordstadtblogger.deDer weiße Bus ist über und über mit gelben, grünen, blauen und roten Punkten beklebt.

"Beratungsmobil" steht auf ihnen in Deutsch, Rumänisch, Bulgarisch und Romanes. Sozialarbeiterin Simone Brezinski macht heute auf dem Flensburger Platz Station, mitten in der Dortmunder Nordstadt. Sie hofft, möglichst viele Roma-Familien anzulocken, die sie noch nicht kennt. Mit Kolleginnen hat sie auch ein paar Tische aufbauen lassen, auf denen Malblöcke und Puzzles liegen. Das Beratungsmobil ist das neueste Projekt, mit dem sich die Stadt Dortmund um eine bessere Integration von Armutsflüchtlingen aus Südosteuropa bemüht. Mitunter ist es ein zähes Ringen. Ausgerechnet mit jenen, die Hilfe am nötigsten brauchten, tun sich selbst erfahrene Sozialarbeiter schwer, in Kontakt zu kommen. Aus sicherer Entfernung schaut eine Gruppe junger Roma-Männer herüber. Dann setzt sich ein Mädchen auf eine, der Bänke, weil sie die Bundstifte entdeckt hat.

Seit dem EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens vor sieben Jahren zählt Dortmund zu den deutschen Städten, denen die Armutseinwanderung besonders zu schaffen macht. Lebten 2006 noch 573 Bulgaren und Rumänen in Dortmund, sind es heute rund 6000. Wer nach Dortmund kommt, der kommt meist in der Nordstadt an, das ist schon seit Generationen so. Früher waren es vor allem Arbeiter aus den damaligen deutschen Ostgebieten oder aus Polen, später aus der Türkei. Heute sind es Roma-Familien aus Bulgarien oder Rumänien. Sie zieht es nach Dortmund -weil dort schon Roma leben, weil viele von ihnen Türkisch verstehen und auch weil es regelmäßige Fernbusverbindungen von Südosteuropa nach Dortmund gibt.

Ankunft einer Roma-Familie in der Nordstadt. Foto: Axel Völkel, nordstadtblogger.deAuch immer mehr Kinder und Jugendliche kommen. In der Altersgruppe von ein bis 17 Jahren registrierten die Behörden allein im ersten Halbjahr 2014 einen Zuwachs um 120 Prozent. Mittlerweile leben 2120 Kinder aus Südosteuropa in Dortmund. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Personen, die sich und ihre Familien weder an- noch abmelden. Mindestens einmal in der Woche macht Sozialarbeiterin Brezinski gemeinsam mit Kollegen Begehungen in verwahrlosten Mietshäusern. Immer wieder müssen Wohnungen wegen unhaltbarer hygienischer und baulicher Zustände geräumt werden oder wegen akuter Brandgefahr durch wild verlegte Elektrokabel. "Dabei stoßen wir immer wieder auf Kinder, die nirgendwo registriert sind." Es kommt vor, dass Kinder, die in Dortmunder Kliniken geboren werden, durch alle Melderaster fallen. "Sozialarbeiter, Ärzte, Krankenschwestern haben diese Kinder gesehen", berichtet Brezinski. Nach der Entlassung aus der Klinik geben die Mütter dann an, die Säuglinge seien bei Verwandten. "Und manchmal sind dann sowohl Mutter als auch Kind nicht mehr auffindbar. Diese Kinder existieren offiziell nicht." Selbst Schulkinder, die die Sozialarbeiter schon kennen, verschwinden manchmal von einem auf den anderen Tag ohne Abmeldung.

Die Sozialarbeiter hoffen, dass sie mit Hilfe des Beratungsmobiis mehr Informationen über Armutseinwandererfamilien und ihren Aufenthaltsort bekommen, um kontinuierliche Betreuung und Beratung überhaupt möglich zu machen. Viele der Familien haben eine ausgeprägte Angst vor Ämtern und Institutionen - weil sie in ihrer alten Heimat immer Angst haben mussten vor Behörden. Um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, gibt es kleine Geschenke, die Sponsoren zur Verfügung gestellt haben: Windeln, Säuglingsnahrung, Schul- und Spielmaterial. "Viele Armutsflüchtlinge sehen in uns das Amt, das ihnen die Kinder wegnimmt", sagt Brezinski. Manchmal stimmt das freilich: Immer wieder müssen in Dortmund einzelne Einwandererkinder in Obhut genommen werden - nicht weil es ihnen an Liebe und Zuwendung fehlt, sondern weil die Wohnung nicht geheizt, der Kühlschrank leer ist oder Wasser und Strom abgedreht sind.

"Für Dortmund ist es eine große Herausforderung, die Kinder und ihre Familien zu integrieren", sagt Waltraud Bonekamp, die Dortmunder Dezernentin für Schule, Jugend und Familie. Es sind die Ärmsten der Armen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Dortmund kommen. Sie können oftmals weder lesen noch schreiben und sind in umfassendem Sinn "bildungsfern": Viele der Neuankömmlinge wissen nicht einmal, wozu man eine Zahnbürste braucht. Immer wieder treffen Bonekamps Sozialarbeiter Kinder mit verfaulten Zähnen. "Sie können den Tag nur mit Schmerzmitteln überstehen', sagt Sozialarbeiterin Brezinski.

Die Armutseinwanderung ist auch eine große finanzielle Herausforderung für Dortmund. Die Kommune befindet sich in einer schwierigen Haushaltssituation und leistet mit dem bei weitem nicht ausreichenden Geld, das sie aus Fördertöpfen des Landes Nordrhein-Westfalen und der EU bekommt, trotzdem Vorbildliches. Es gibt das Beratungsmobil, es gibt Kinderstuben, wo Armutseinwanderer ihre Kinder vom ersten Lebensjahr an betreuen lassen können, es gibt muttersprachliche Familienbegleiterinnen, und es gibt mittlerweile 53 Auffangklassen für die vielen Migrantenkinder, die nicht nur aus Rumänien und Bulgarien nach Dortmund kommen. Weil sie meist kein Wort Deutsch sprechen, werden sie in einem, manchmal auch in zwei Jahren systematisch auf den Regelunterricht vorbereitet.

Als Dortmunder Erfindung gelten "Kinderstuben im Wohnblock". In den seit 2008 eröffneten sechs Kinderstuben werden jeweils neun Kinder im Alter zwischen eineinhalb und fünf Jahren aus überwiegend bildungsfernen Einwandererfamilien betreut. Die Kinderstuben sollen nicht nur zur gezielten Sprachförderung und als Einstieg in die Bildungskette für die Kinder dienen, nachmittags gibt es zwei Stunden lang zudem Elternarbeit. Jedes Kind, das eine der Stuben besucht, bekommt anschließend auch einen Platz in einer Kindertageseinrichtung garantiert. "Und bis zur Schulpflicht verlieren wir die Kinder dann nicht mehr", sagt Dezernentin Bonekamp. Mit Mitteln des Landes richtet Dortmund derzeit in Wohnungen in der Nordstadt drei weitere Kinderstuben ein. In der Nordstadt werden die Neuankömmlinge oft von halsabschneiderischen Geschäftsleuten ausgenommen, die genau wissen, dass niemand sonst Roma als Mieter haben will. Auch Gellu und Gabriela Lincan ging das so. Als sie zusammen mit ihren sieben Kindern im Oktober vor einem Jahr nach Dortmund kamen, war nur ein Vermieter bereit, einen Vertrag mit ihnen zu schließen. 950 Euro zahlten sie für gerade einmal 75 Quadratmeter. Mittlerweile hat die Familie eine andere Drei-Zimmer-Wohnung gefunden, die 300 Euro weniger kostet. Im Wohnzimmer sitzt Gabriela Lincan, vor ihr sind in einer Stuhlreihe fünf ihrer Kinder piaziert: Raoul, Denis- Ruben, Florin, Estra und Mizil. Die Lincans haben Besuch. Elena Preduca, die Familienbetreuerin, ist gekommen. Gellu Lincan sagt, er sei froh über die neue Wohnung. Sorgen bereitet ihm aber, dass seine Familie nun am Nordmarkt, dem Brennpunkt der Nordstadt, wohnt. "Keine gute Straße für meine Kinder", sagt er. "Viel Verkehr, Drogen, Kriminalität, Prostitution." Offiziell ist die Straßenprostitution in Dortmund verboten, doch auffällig unauffällig halten sich Frauen auf den Gehsteigen für Freier bereit. An der Ecke vor dem Cafe "Europa" warten morgens Männer auf dem sogenannten Arbeiterstrich darauf, dass sie jemand als Tagelöhner anheuert.

Auch Lincan, der sich vor wenigen Wochen als Trockenbauer selbständig gemacht hat, steht oft vor dem "Europa" und hofft vergeblich. "Keine Arbeit." Derzeit lebt die neunköpfige Familie vom Kindergeld. In diesem Monat blieb die Überweisung aus, weil die Ämter die Ummeldung noch nicht bearbeitet haben. Jetzt soll die Familienbegleiterin helfen. Preduca kam 2003 nach Deutschland und schlug sich zunächst als Tellerwäscherin und später als Bedienung in einem Döner-Imbiss durch. Seit April ist sie eine von mittlerweile sechs Familienbegleiterinnen, die sich in Dortmund um Armutsflüchtlinge aus Südosteuropa kümmern. Preduca ist besonders begehrt. Weil sie selbst eine Roma ist, weil sie selbst schwere Zeiten erlebt hat. Mehr als 100 Familien betreut Preduca regelmäßig. Nun beugt sie sich zusammen mit den Gellu und Gabriela Lincan über die Bescheinigungen, die man braucht, um Kindergeld für den vor drei Monaten geborenen Nicusor beantragen zu können. Sie werde sich an die Familienkasse wenden, um wieder einmal das "Herz von Sachbearbeitern für Menschen zu öffnen", verspricht Preduca. "Die Unterlagen sind ja vollständig", sagt die Familienbegleiterin. "Alle schulpflichtigen Kinder gehen auch tatsächlich regelmäßig zur Schule."

Selbstverständlich ist das nicht. Sozialarbeiter berichten, es sei oft unendlich schwer, Roma-Familien deutlich zu machen, dass es eine Pflicht ist, Kinder in die Schule zu schicken. Mehmet ist ein Beispiel. Der pfiffige Junge hat Deutsch auf der Straße gelernt. Wie man sich auf der Straße durchschlägt, weiß er genau. Das gilt nicht nur im übertragenen Sinn. Mehmet langt auch mal zu, wenn ihm etwas nicht passt. Der Roma-Junge ist schon neun, aber zur Schule geht er erst seit kurzem. Lesen, schreiben und rechnen kann er nicht. Mehrfach ist seine Mutter auf der Suche nach irgendeiner Arbeit mit ihren Kindern zwischen Deutschland und Bulgarien hin- und hergewandert. Einen Job hat sie auch in Dortmund nicht gefunden. Mehmet aber hat Glück. Er geht auf die Libellen-Grundschule, wo er mit 23 anderen Jungen und Mädchen die Auffangklasse besucht, in der er auf den Unterricht in einer regulären Klasse vorbereitet werden soll. Von sich aus hätte Mehmets Mutter ihren Sohn nicht in die Schule geschickt.

Christiane Mika, die Leiterin der Libellen-Grundschule, kam persönlich, um den Jungen zu seinem ersten Schultag mitzunehmen. Und noch immer hadert Mehmet mit seinem "Schul-Schicksal". Mit seinen Kameraden aus der Auffangklasse sitzt er im Kreis. Die anderen Kinder sind mit Feuereifer dabei. "Ich heiße Bilal, wie heißt du? Ich heiße Nora, wie heißt du?" Mehmet rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. "Er würde am liebsten los auf die Straße", flüstert Schulleiterin Mika. "Mehmet ist ein Kind, bei dem ich kämpfen muss, damit er uns nicht entgleitet."

Im Kampf um Mehmets Zukunft hat Schulleiterin Christiane Mika nun eine Mitstreiterin gefunden. Marlies Hennemann hat viele Jahre lang an einer Gesamtschule in der Nordstadt gearbeitet. Vor kurzem ist sie in Rente gegangen, kommt aber nun ehrenamtlich in die Libellen-Grundschule, weil sie sich noch nicht vorstellen kann, zu Hause bei ihrem Mann zu sitzen. Und weil doch Fachleute wie sie dringend gebraucht werden. Hennemann liebt "ihre" Kinder. Und eben weil man ihr nichts vormachen kann, lieben "ihre" Kinder auch sie. "Hömma, ich bin jetzt deine Chefin", hat die 63 Jahre alte Hennemann Mehmet zur Begrüßung gesagt. "Der junge Mann braucht eine klare Ansage, ständig testet er die Grenzen." Als Mehmet an diesem Morgen wieder einmal den Unterricht stört, geht Marlies Hennemann mit ihm raus auf den Schulhof zum "Lüften" ,wie sie das nennt. "Wenn wir es hier nicht schaffen, auch solche Kinder zu integrieren, haben wir als Gesellschaft ein Riesenproblem."

Ein Teil des Problems hat längst begonnen: Im vergangenen Jahr mussten allein in Dortmund 45 sogenannte Klaukids vorübergehend in Obhut genommen werden. Es handelt sich um Kinder wie die auch erst neun Jahre alte Ramona, die der Polizei zwölfmal wegen Ladendiebstahls auffiel. Kriminelle Banden aus Südosteuropa setzen strafunmündige Jungen und Mädchen gezielt ein. Die mittlerweile 14 Jahre alte Elisabeta brachte es sogar auf mehr als 200 Diebstähle und Überfälle. Ihr Name ist im Ruhrgebiet längst zum Synonym für das Wort Klaukid geworden auch weil sie immer wieder untertauchte, mal in Duisburg, mal in Dortmund, dann in Holland lebte. Vor wenigen Wochen hat das Land Nordrhein-Westfalen für solche Kinder das Programm "Klarkommen" aufgelegt und finanziert nun auch in Dortmund Sozialarbeiter, die sich um diese ganz besonders schweren Fälle kümmern.

"Der Schlüssel ist, den Kindern frühzeitig eine Tagesstruktur zu geben, sie weg von der Straße zu halten oder sie weg von der Straße zu bekommen", sagt Jugenddezernentin Bonekamp. "Wir alle hier tun unser Möglichstes, und es ist trotzdem nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn wir es nicht schaffen, diese Menschen zu integrieren, dann birgt das enormen sozialen Sprengstoff." Wenn man Armutseinwanderer wirklich integrieren wolle, müsse man beim Schutz und der Förderung der Kinder und Jugendlichen beginnen und ihre Eltern, die in der Regel eine gute Zukunft für ihre Kinder wollten, mit einbeziehen.

Als zermürbend empfindet die Jugenddezernentin, dass die Finanzierung immer auf tönernen Füßen steht. Die schwierige Haushaltssituation zwingt die Stadt Dortmund trotz hoher sozialer Belastungen zu Einsparungen in allen Ressorts. Von der "Soforthilfe" in Höhe von 25 Millionen Euro, die der Bund nach langem Ringen für Kommunen bereitstellt, die besonders von Armutseinwanderung betroffen sind, soll ausgerechnet Dortmund nur einen geringen Betrag bekommen - wegen einer realitätsfremden Berechnungsgrundlage. Und das Geld für die Projekte aus den Fördertöpfen von Land und EU steht immer nur befristet zur Verfügung. Nach zwei, drei Jahren muss immer wieder alles neu beantragt und begründet werden. Das ist kompliziert und bürokratisch aufwendig. "Wir müssen endlich in die Regelförderung, weil wir hier eine wichtige Arbeit für Deutschland und für ganz Europa leisten." 


Fotos: Axel Völkel, nordtstadtblogger.de